Die Erfindung des jüdischen Volkes

Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes

„Nicht für einen Friedensschlag, sondern eher für eine Art Paukenschlag höchst provokativer Art sorgte Shlomo Sand. Der Titel seines jüngst veröffentlichten Buches, sagt schon fast alles. Es heißt „Die Erfindung des jüdischen Volkes“. Darin bezeichnet der Historiker aus Tel Aviv die zionistische Geschichtsschreibung als mythologisch. Und er geht noch einen Schritt weiter. Shlomo Sand stellt die Existenz eines jüdischen Volkes regelrecht in Frage, sieht Juden lediglich als Religionsgemeinschaft und rüttelt damit an den Grundfesten des israelischen Staatsverständnisses.

Die provokante These

Wie er auf diese provokative These kommt und was er sich daraus erhofft, erklärt Ihnen Matthias Graf in einem kurzen Film. Danach sehen Sie ein Gespräch, das wir vor dieser Sendung aufgezeichnet haben.

Die Existenzfrage

Gibt es ein jüdisches Volk? Nein. Diese einfache wie provokante These entwirft der israelische Historiker Shlomo Sand in seinem Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“. Für Sand beruht die Gründungsgeschichte des Staates Israel auf Mythen. Historisch gesichert sei so gut wie nichts. Vertreibung durch die Römer, Exodus, Rückkehr nach 2000 Jahren ins Land der Väter – laut Sand alles Erfindungen europäischer Zionisten des 19. Jahrhunderts. Die Königreiche von David werden in den zeitgenössischen Quellen nicht erwähnt. Für Sand gibt es kein Exil und keine Diaspora. Die ost- und mitteleuropäischen Juden, die Träger der zionistischen Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts hatten, so Sand, mit den Juden Palästinas nie etwas zu tun. Viele von ihnen, die Israel mit ihren eigenen Händen aufgebaut haben, seien beispielsweise Nachkommen eines Turkvolkes, das im achten Jahrhundert geschlossen zum Judentum übergetreten war.

Die Wurzeln der Identität

Das rührt an den Kern der zionistischen Lehre – die vermeintliche Rückkehr aus dem unfreiwilligen Exil. Nicht wirklich eine Heimkehr. Für Sand sind die Palästinenser eher ethnische Nachkommen der biblischen Israeliten als die aus Europa eingewanderten Juden. In seinem Buch beschreibt er Israel als Staat und Volk mit einer gemeinsamen Sprache, mit Film und Theater, mit einer Literatur und weiteren Elementen einer laizistischen Kultur. Das sei die Errungenschaft des zionistischen Unterfangens. Ein jüdisches Volk hingegen existiere nicht. Das Judentum – für Sand eine rein religiöse, keine ethnische Gemeinschaft. Die Geburt der israelischen Nation. Ein Konstrukt, gewebt aus Mythen und Legenden.

Das Interview

Guten Abend, Herr Sand. Guten Abend.

Die Definition des Judentums

Sie behaupten, das jüdische Volk sei nur eine Erfindung. Das ist eine sehr provokative These. Wie müssen wir das verstehen?

„Sie wissen, wir benutzen den Ausdruck Deutsches Volk, Französisches Volk. Wenn Sie von französischem Volk sprechen, können Sie nicht von jüdischem Volk sprechen, denn Sie haben nichts gemeinsam. Es gibt also nichts, was alle Juden vereinheitlichen kann, nicht die Sprache. In Deutschland sprechen natürlich alle Deutsch, aber es gibt heute keine jüdische Sprache. Ich kann also nicht sagen, dass es ein jüdisches Volk gäbe.“

Die Rechtfertigung Israels

Aber wenn es tatsächlich kein jüdisches Volk geben sollte, wie lässt sich Israel denn als Staat rechtfertigen?

„Ich denke, heute gibt es ein israelisches jüdisches Volk, das eine Kultur, eine Sprache, ein Kino, ein Theater hat, ein Produkt der zionistischen Bewegung, und dadurch wurde ein jüdisch israelisches Volk geschaffen. Aber ich glaube nicht, dass alle Juden auf der Welt dazu gehören. Die können nicht meine Sprache sprechen oder meine Bücher lesen auf Hebräisch. Die brauchen eine Übersetzung. Ich weiß nicht, warum man von jüdischem Volk spricht. Ich weiß, warum der Zionismus davon gesprochen hat. Er hat das jüdische Volk erfunden, um eine jüdische Nation zu schaffen.“

Die Motivation des Autors

Eigentlich ist ja jede Nationalgeschichte ein Mythos. Warum wollen Sie ausgerechnet den Israelis ihren Mythos nehmen?

„Das ist eine gute Frage, denn ich denke, Mythen, die in der Moderne Nationen schaffen, können sie auch zerstören. Wenn man glaubt, dass Israel eine Brücke ist für weitere jüdische Kolonisierung, wenn man glaubt, dass das Land uns gehört wegen der Bibel, dann kann das die Existenz der israelischen Gesellschaft bedrohen.“

Die Position des Autors

Man kann sich natürlich auch fragen: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben, und für wen haben Sie dieses Buch geschrieben? Sind Sie ein Antizionist?

„Nein, nein. Ich bin kein Antizionist, denn die Konnotation davon ist, die Existenz Israels nicht zu akzeptieren. Ich definiere mich als Post-Zionist oder Nicht-Zionist, denn ich möchte, dass Israel seinen Bürgern gehört, nicht allen Juden auf der Welt. Ich bin kein Antizionist, aber ich bin auch kein Zionist. Ich bin Demokrat und ich glaube, wie in Deutschland, wo Deutschland den Deutschen gehört, nicht den arischen Christen, so glaube ich auch, dass Israel allen Israelis gehört.“

Die Herausforderung für Israel

Aber wenn Sie also schreiben, dass man anzweifeln kann, ob Israel ein demokratischer Staat ist, haben Sie dann nicht Angst, dass Sie plötzlich Applaus von der falschen Seite bekommen?

„Nein, denn Israel ist kein demokratischer Staat. Meine arabischen Studenten zum Beispiel, die sind in Israel geboren und es sind eigentlich israelische Bürger. Aber Netanjahu sagt, dass das ein jüdischer Staat wäre. In zehn Jahren wird es dann Revolten in Galiläa geben und nicht nur in Gaza und den besetzten Gebieten.“

Reaktionen auf das Buch

Sie haben sehr interessante Erfahrungen gemacht, waren im Übrigen wochenlang auf der Bestsellerliste in Israel und auch eingeladen an der Al Quds Universität. Diese liegt im besetzten Gebiet bei Jerusalem. Was haben Sie da für Reaktionen bekommen auf Ihr Buch?

„Nun, viele Menschen mochten es und es wurde ja ein Bestseller in Israel. Viele Leute haben es gehasst, denn ich gehe da ja an die Identität der Menschen. Ich wurde also vom Präsidenten der Al Quds Universität eingeladen. Der Empfang war sehr interessant. Die Leute fragten sich nach dem Schreiben dieses Buches: Wie kann man die Existenz Israels anerkennen? Und dann habe ich gesagt: Selbst ein Kind eines Arabers hat ein Recht zu existieren.“

Die Bedeutung des Begriffs „Jüdische Nation“

Bitte erklären Sie uns: Warum ist der Begriff der jüdischen Nation für Israel so wichtig? Warum halten Sie daran fest?

„Aus zwei Gründen. Ich möchte nicht, dass die Welt glaubte, dass wir eine Brücke der Immigration sind für Juden auf der ganzen Welt. Wir sind ein unabhängiges Land. Und bald müssen wir uns in den Nahen Osten integrieren. Wir können nicht so eine Brücke für alle Juden auf der Welt sein. Wir müssen zum Nahen Osten gehören. Wir müssen nicht alle Kulturen akzeptieren, aber wir müssen Teil des Nahen Ostens sein. Wir müssen dort existieren, zusammen mit anderen, mit den Arabern. Das ist die einzige Lösung. Ich bin für die Zweistaatenlösung wie Bibi Netanjahu. Aber eine Zweistaatenlösung im Sinne von zwei reichen Gesellschaften mit vielen Definitionen und Identitäten.“

Die Zukunft Israels und Palästinas

Ist Israel heute oder auch in naher Zukunft als ein Staat vorstellbar, in dem Israel und die Palästinenser friedlich zusammenleben?

„Das ist die einzige Lösung. Und ich bin da an der Diagnose von Avigdor Lieberman und dem Außenminister. Aber ich bin auf die Therapie nicht einverstanden. Ich glaube, es wäre gefährlich für die Existenz, für die für Israel, wenn die Araber kein Teil des Staates sind. Lieberman wird sie rausschmeißen. Ich will mit ihnen zusammenleben. Und ich glaube, wenn jemand sagt, er will nicht mit den Arabern leben, dann hat er die Chance, nach Paris zu gehen, und dann kann er dort andere Araber bekämpfen.“

Abschluss des Gesprächs

Ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch, Herr Sand.

„Ich danke Ihnen.“

Hinweis zum Buch

Shlomo Sands Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ erscheint übrigens am 14. April auf Deutsch.“

(Ende des Transkripts)

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